November
Hito Steyerl, A/D 2004, Schnitt: Stefan Landorf,
Assistenz: Yasmina Dekkar.
Englische Originalfassung, 25 Minuten, DVD.
“An age that has lost its gestures is, for this reason, obsessed
by them. For human beings who have lost every sense of naturalness,
each single gesture becomes a destiny. And the more gestures lose
their ease under the action of invisible powers, the more life becomes
indecipherable”. (Agamben 2000:53)
Meine beste Freundin als ich 17 war, hiess Andrea. Wolf. 1998 wurde
sie als kurdische Terroristin in Ostanatolien erschossen. In Deutschland
wurde sie gesucht. Sie wurde verdächtigt, die Rote Armee Fraktion
bei der kompletten Zersörung des Abschiebegefängnisses
in Weiterstadt unterstützt zu haben. 1996 beschloß sie,
nach Kurdistan
zu gehen, um sich der Frauenarmee der PKK anzuschliessen. Sie nahm
den Namen Ronahi an, und trainierte für einige Monate mit der
Frauenarmee, meist in Lagern in Nordirak. Im Oktober 1998 wurde
ihre Einheit von der türkischen Armee nah an der irakischen
Grenze aufgespürt. Ein schweres Gefecht fand statt. Nur einige
der Kämpfer
überlebten. Sie waren unter schwerem Helikopterbeschuss. Die
meisten Überlebenden versteckten sich in einem Erdloch. Später
erzählt eine dieser Zeuginnen, Andrea sei nach ihrer Gefangennahme,
vermutlich durch Angehörige der türkischen Sicherheitskräfte,
exekutiert worden.
“Gesture is the name of this intersection between life and
art, act and power, general and particular, text and execution.
It is a moment of life subtracted from the context of individual
biography as well as the moment of art subtracted from the neutrality
of aesthetics: it is pure praxis.” (Agamben 2000:79)
Der Film November stellt die Frage nach dem, was heute Terrorismus
genannt wird an und früher Internationalismus genannt wurde.
Die Arbeit untersucht die Gesten und Posen, die damit in Verbindung
stehen, und ihr Verhältnis zur Populärkultur, vor allem
dem Kino. Der Ausgangspunkt des Films ist ein feministischer Kungfu-Film,
den
Andrea Wolf und ich zusammen auf S-8 drehten, als wir 17 Jahre alt
waren. Jetzt ist dieser Amateurtrashfilm plötzlich ein Dokument
geworden. November ist kein Film über Andrea Wolf. November
ist kein Film über die Situation in Kurdistan. Er reflektiert
stattdessen die Gesten der Befreiung nach dem Ende der Geschichte,
wie sie in der
Popkultur und durch reisende Bilder verbreitet werden. Der Film
handelt von der Epoche des November, in der die Revolution vorbei
zu sein scheint, und nur ihre Gesten weiter zirkulieren.
Agamben, G. (2000) 'Notes on Politics' Means Without End: (Theory
Out of Bounds, V. 20), trans Binetti, V & Casarino, C University
of Minnesota Press.
La dialectique peut-elle casser des briques (Can
dialectics break bricks ? / Kann die Dialektik Ziegelsteine zerbrechen?)
René Viénet & Gerard Cohen,
F 1973, Französische Originalfassung
mit englischen Untertiteln, 90 Minuten, VHS.
„Stellen Sie sich einen Kung-Fu-Film vor, in dem die Kampfkünstler
situationistische Aphorismen über die Überwindung der
Entfremdung von sich geben, während dekadente Bürokraten
sich ironisch über eine abgewürgte Revolution auslassen.
Genau das begegnet Ihnen in René Viénets greller Zweckentfremdung
eines chinesischen
Faustkampffilmes. Viénet, ein einflussreicher Situationist,
entfernte den Soundtrack von dem mittelmäßigen Hong Kong-Export
und pappte seine eigenen wahnwitzigen Dialoge darauf. (...) Eine
brilliante, bittere und aufrührerische Kritik am Scheitern
des Sozialismus, worin die Kampfkünstler ideologische Rückschläge
durch theoretische Vorstöße nach Debord, Reich und anderen
kontern. (...) Viénet zielt auch auf den Mechanismus des
Kinos und die Art,
wie dieser der Ideologie dient.“ (Pacific Film Archive, Berkeley
1992)
In Anwesenheit von Hito Steyerl.
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