ALMfilm: Erkenntnisgewinn durch zuhören
können
Der ALMfilm ist ein intensiver Dokumentarfilm
über den Arbeitsplatz von Menschen mit geistiger Behinderung,
der sogenannten "Alm" oberhalb des Kahlenberger Dörfls
im Wienerwald. Behinderung wird dabei in keiner Szene
"ausgestellt". Die MitarbeiterInnen kommen zu Wort in
Sprache oder Ausdruck und der Film bietet
die Gelegenheit, diese Menschen über das Jahr bei ihren Tätigkeiten,
Träumen und Reflexionen zu begleiten.
ALMfilm erzählt vom Meistern des Alltags und der Kraft und
dem Selbstbewusstsein, die daraus folgen.
(Diagonale 2006)
ALMfilm von Gundula Daxecker
A 2006, 69 min., mit Manuela Hauer, Julia Panholzer,
Hans Hoffmann, Murat Börekci, Wolfgang Krejar und vielen anderen
Buch, Regie, Schnitt: Gundula Daxecker
Kamera, Postproduktion: Ludwig Löckinger
Eine Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion GmbH
http://www.geyrhalterfilm.com
Anschließend Diskussion mit Gundula Daxecker, Murat Börekci,
Manuela Hauer, Julia Panholzer (ALMmitarbeiterInnen) und Achim Schwarz
(Betreuer auf der ALM)
Wozu der ALMfilm?
"Was hat der ALMfilm den Almleuten gebracht? Außer Abwechslung
im Arbeitsalltag an Drehtagen und einem Ausflug nach Graz mit Essen
auf Kosten der Filmproduktionsfirma, außer dem Erlebnis, sich
selbst auf der großen Leinwand zu sehen und dem Applaus nach
der Vorführung, außer der Erfahrung, wie es ist, in einem
Film mitzuwirken und was es heißt, offen über sich zu
sprechen, außer der Selbsterkenntnis, zu der die intensiven
Interviews führten, außer der Freundschaft zu den Filmleuten,
die den Filmdreh überdauerte, außer den mehr oder weniger
willkommenen Verzögerungen des Arbeitsbeginns, weil erst noch
die Kamera perfekt positioniert werden musste, außer einem
außergewöhnlichen Dokumentarfilm über eine außergewöhnliche
Beschäftigungstherapie-Einrichtung, eigentlich nicht viel."
Bernhard Girstmair (Leiter der ALM)
Weitere Texte:
Ein berührender Film!
Aus meiner beruflichen Geschichte, ich bin psychiatrischer Krankenpfleger,
hatte ich intensiven Kontakt mit behinderten Menschen. Das war 1977-80
während meiner Ausbildung. Damals gingen wir, von der offenen
Psychiatrie in Italien inspiriert mit den geistig und körperlich
schwerstbehinderten Menschen von der Institution „Steinhof“
in die Gesellschaft hinaus, machten Ausflüge und Tiergartenbesuche..
Muteten uns und die Patienten der
Bevölkerung zu.
Viele der damals hospitalisierten Patienten hätten in alternativen
Wohnprojekten leben können, hätte es solche gegeben. Der
ALM-Film von Gundula Daxecker hat ein Stück meiner Vergangenheit
wachgerufen und mir gezeigt wie Menschen mit Behinderungen heute
ihr Leben meistern können. Mehr noch, der Film hat mir gezeigt,
dass
diese Menschen die gleichen Gefühle und Sehnsüchte haben
wie sogenannte Normale, Gesunde.
In Gundulas Film werden diese Menschen mit all ihren Bedürfnissen,
Emotionen und Befindlichkeiten gezeigt. Auf eine unspektakuläre
und sensible Art und weise, die es möglich macht den Menschen
zu sehnen,
in seiner Würde und Integrität. Die Aufmerksamkeit, der
Fokus gilt ganz diesen Menschen, wissentlich,
dass das gezeigte nur ein kleiner Abschnitt ihres Lebens ist. Wissentlich
auch der im Film kaum gezeigten Menschen die dieses Alm-Projekt
und die Menschen dort unterstützen.
Gundula Daxecker ist es gelungen mit wenigen Fragen viele Antworten
zu bekommen. Der Film weckt in mir eine Verbindung zu Sten Nadolnys
„ Die Entdeckung der Langsamkeit“ wo auch „andere“
Dimensionen menschlicher Eigenschaften eine Rolle spielen.Ein Film
der beitragen kann die Kluft zwischen normal und behindert
zu verkleinern und unbedingt einer breiteren Öffentlichkeit
gezeigt werden sollte.
Günter Pichler Akad. Pflegemanager SOWAS -Chefredakteur
Realistisch ist nur die Beziehung, die wir zu den Leuten haben
– und wie sie sich vor der Kamera zeigt.“
Gespräch mit Gundula Daxecker über
ihren Dokumentarfilm ALMfilm
von Thomas Korschil
Thomas Korschil: Wie bist du dazu gekommen, dich mit Menschen mit
geistigen Behinderungen filmisch auseinanderzusetzen?
Gundula Daxecker: Manuela Hauer, eine der Hauptprotagonistinnen,
kenne ich schon länger, u.a. vom „Siebenstern“,
als sie dort noch weniger integriert war als heute, noch nicht so
viele Leute kannte. Aber zumindest war das ein Lokal, wo sie nicht
einfach weggeschickt wurde. Ich kann mich erinnern, wie sie vorm
Eingang am Boden gesessen ist und Selbstgespräche geführt
hat. Mich hat das berührt, dass sie anscheinend niemanden hatte,
mit dem sie kommunizieren konnte. Ich habe dann die Erfahrung gemacht,
dass sie sich verständlich machen und gut ausdrücken kann.
T: Was mir an deinem Film gut gefällt, ist, dass er offensichtlich
nicht versucht, das „Alm“-Projekt umfassend zu dokumentieren,
sondern sich auf einige wenige Personen konzentriert.
G: Wir haben während der Weinernte zu drehen begonnen und
wollten die Leute ursprünglich insgesamt viel bei der Arbeit
zeigen. Es hat sich für uns dabei aber schnell ein Wiederholungseffekt
eingestellt. Schon in der ersten Drehwoche haben wir auch mit den
Interviews begonnen, die im Laufe der Dreharbeiten immer wichtiger
wurden. Das war ein längerer Prozess. Murat Börekci, z.B.,
wollte zunächst nicht mitmachen, wurde dann aber zu einer der
wichtigsten Figuren im Film. Beim ersten Interview hat er geglaubt,
schnell eine Antwort geben zu müssen. Er ist aber nicht schnell
und braucht seine Zeit zum Nachdenken und Sprechen, so dass wir
gar nicht richtig ins Gespräch
gekommen sind. Am nächsten Tag wollte er gleich das nächste
Interview machen, und das konnten wir schon für den Film verwenden
– da hat es funktioniert und ich habe gewusst, wie ich mit
ihm reden muss.
T: Inwieweit waren die Gespräche Interviews im Sinne von gezielten
Fragen und thematischen Vorgaben für die ProtagonistInnen?
G: Grundsätzlich habe ich mir überlegt, sie einfach erzählen
zu lassen, was sie gerade erzählen wollten. Es gibt viele Stunden
Interviewmaterial, wo sie über Sachen reden, die nicht im Film
vorkommen, weil sie nicht so interessant oder vielleicht auch zu
persönlich waren. Wichtig war, eine Situation zu schaffen,
in der sie nicht darüber nachdenken müssen, was gerade
gut oder gescheit zu sagen wäre – ich wollte jeden Druck
wegnehmen, sie frei reden
lassen. Zugleich hatte ich Themen, nach denen ich gefragt habe.
Es sollte um Vergangenheit und Erinnerung gehen, Familie und um
das „Hier und Jetzt“.Durch die Sprechpausen, die auch
im Film vorkommen, entsteht ein Raum zum Nachdenken und Nachspüren.
Sprache und Denken waren wichtige Themen für den Film. Ich
wollte, dass man sieht, dass diese Leute – denen man das Denken
für gewöhnlich abspricht – denken.
T: Hatten deine ProtagonistInnen ein Mitspracherecht bei der Entscheidung,
was in den Film kommt und was nicht? Was blieb draußen?
G: Julia Panholzer, z.B., hat viel über ihren Vater erzählt,
furchtbare Geschichten. Ich hätte sie vielleicht dazu bringen
können, einer Verwendung davon im Film zuzustimmen. Ich musste
verantwortlich damit umgehen. Murat wollte nicht, dass seine Eltern
vorkommen. Ich bin mit den ProtagonistInnen alle Interviewpassagen,
die im Film vorkommen sollten, durchgegangen, und habe sie gefragt,
ob wir sie verwenden dürfen.
T: Manche Gesprächsinhalte werden nicht völlig klar,
z.B. Murats Geschichte von seinem Freund und dem Verrat. Hast du
erwogen, auf anderen Ebenen Zusatzinformationen einfließen
zu lassen oder wolltest du manches auch bewusst offen lassen?
G: Ich wollte auf keinen Fall einen Off-Kommentar oder Zusatztexte,
weil ich finde, dass die ProtagonistInnen sehr wohl für sich
sprechen können. Dass dann vielleicht nicht immer alles klar
ist, habe ich bewusst in Kauf genommen. Ich hätte es wirklich
öd gefunden, anzufangen, sie zu erklären. Ich finde es
interessant, wenn man nach
dem Film Fragen hat, nicht alles erklärt ist und der Film auch
zum Nachdenken anregt.
T: Mir hat sich wiederholt die Frage aufgedrängt, inwieweit
die ProtagonistInnen ein Bewusstsein über ihre eigene Situation
und ihre Mitwirkung beim Film haben. Dass du sie sich derart öffnen
lässt und unkommentiert zeigst, kann man ja durchaus auch problematisch
sehen.
G: Es war für mich schon eine Gratwanderung. Wie Murat z.B.
die Geschichte mit seinem Freund erlebt hat – er will, dass
die Leute das wissen, dass ihm das so passiert ist. Wenn er unterwegs
ist und die Leute auf der Straße glauben, er sei betrunken
und sich zu einer Schlägerei provozieren lässt –
er möchte, dass die Leute wissen, dass
er aufgrund seiner Gleichgewichtsstörungen torkelt und nicht,
weil er betrunken ist. Oder wenn er sagt, dass ihn niemand mag und
er jemand sei, den man nicht mögen könne – das ist
für ihn nicht zu persönlich oder privat.
T: Im Unterschied zu Murat, der sich selber viel reflektiert, scheinen
andere mehr in ihrer eigenen Welt zu bleiben, was sich auch im Umgang
mit der Sprache ausdrückt. Manuela könnte man z.B. als
virtuose Sprachkünstlerin sehen, wodurch konkrete Probleme
möglicherweise ästhetisiert und verklärt werden.
G: Ja, vielleicht ist das eine Möglichkeit für das Publikum
sich zu distanzieren, weil die Leute sehr direkt sind. Sie gehen
direkt auf einen zu, und das merkt man eben auch im Film. Einerseits
erlebt man diese Direktheit und andrerseits ist es eben ein Film
und eine Möglichkeit, Distanz herzustellen, weil die Leute
einem vielleicht
oft näher kommen, als man das möchte. Aber ich habe kein
Problem mit einer ästhetisierenden Lesart, weil ich glaube,
dass man vielleicht Momente verklären kann, Teile, aber die
Personen selber verklärt man nicht.
T: Welche Rolle haben die BetreuerInnen im Film?
G: Die BetreuerInnen sollten im Hintergrund bleiben. Dass sie vorkommen,
war für den Zusammenhang wichtig, dass man sieht, dass die
KlientInnen nicht einfach sich selbst überlassen sind, sondern
dass es diese Realität von Betreuung und einem geschützten
Arbeitsplatz gibt. Ich wollte mit diesem Film vom typischen Bild
von KlientInnen
oder „Behinderten“, die auf Hilfe angewiesen sind, wegkommen
– zumindest ein wenig: Die ZuseherInnen haben so die Möglichkeit
den ProtagonistInnen auf einer gleichberechtigten Ebene zu begegnen.
Eine Identifikation des Publikums mit den BetreuerInnen würde
den KlientInnen wieder den Platz zuweisen, den sie in unserer
Gesellschaft ohnehin haben. Ich wollte einen neuen Raum für
sie schaffen.
T: Die geografische Abgeschiedenheit der „Alm“, wie
sie der Film vermittelt, scheint symptomatisch für die Position
von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft zu sein.
G: Man hat eigentlich kaum Kontakt mit behinderten Leuten und wenn
man jemanden sieht, hat man entsprechende Vorurteile und Ängste.
Ich habe jetzt sicher einen anderen Zugang zu Menschen mit geistiger
Behinderung als vorher und ich finde, dass viel mehr gemacht werden
müsste, um sie zu integrieren. Manuela z.B. hat sich im „Siebenstern“
ihren Platz geschaffen, in bestimmten Bereichen sind Leute offen.
Aber Behinderung ist in Österreich kein Thema. Die Leute interessieren
sich nicht dafür. Weil sie zu wenig wissen und so mit der ganzen
Thematik scheinbar nichts zu tun haben. Aber es könnte eine
Bereicherung sein, und es ist wichtig für eine Gesellschaft,
dass Randgruppen integriert werden. Der Film schafft Öffentlichkeit
und eine Situation, in der man diesen Menschen zuhört und zuhören
muss, wenn man einmal im Kino drinnen ist.
T: Was für Perspektiven haben die „Alm“-Leute?
G: Für die KlientInnen ist die „Alm“ eine selbst
gewählte Arbeitsstätte, die sie auch wieder verlassen
können, wenn sie wollen. Für viele ist die „Alm“
ein Schritt in die Selbstständigkeit, sie verdienen ihr eigenes
Geld (Taschengeld und Sozialhilfe) und werden vom Verein unterstützt,
ein eigenständiges Leben in einer eigenen (betreuten) Wohnung
zu finden. Ich habe die Zeit auf der „Alm“ aber auch
oft als trist und hoffnungslos empfunden. Murat ist depressiv,
was auch im Film spürbar ist. Ich habe mich sehr bemüht,
primär das Positive zu zeigen, das, was das Leben schön
macht. Trotz des starken Lebenswillens der Leute, den ich immer
wieder erlebt habe, liegt über allem eine enorme Schwere. Was
macht Julia in 20 Jahren?
T: Wie haben die ProtagonistInnen den Film aufgenommen? Bei der
Diagonale haben sich einige von ihnen offensichtlich amüsiert.
G: Für mich war das wie ein Geschenk und ein schöner
Abschluss des Projekts. Dass sie sich so groß im Kino sehen
konnten, war toll für sie. Sie waren sehr stolz auf sich. Das
Ganze hatte auch einen therapeutischen Effekt. Bernhard Girstmair,
der Leiter der „Alm“, hat gemeint, der ALMfilm hat die
„Alm“ verändert. Die Leute hätten in
den vielen Interviews die Möglichkeit gehabt, über sich
und ihr Leben nachzudenken. Das hat viel bewirkt an Selbstreflexion
und Selbstbewusstsein. Murat, der ein so großes Problem damit
hatte, sich zugehörig zu fühlen, teilt sich jetzt das
Bürgermeisteramt auf der „Alm“ mit Manuela. Und
die Wickel zwischen Julia und Murat haben sich
auch geklärt.
T: Wickel? Im Film ist es ja so, dass sie am Ende zusammen kommen.
G: In Realität war alles viel komplizierter. Julia hatte einen
anderen Freund und Murat war hasserfüllt und wollte sie nicht
mehr sehen etc. Lustigerweise sind sie dann aber irgendwie zusammen
gekommen – vielleicht auch durch den Film. Ich wollte keine
heile Welt vermitteln – und es wird ja auch klar, wie schwierig
diese Beziehung ist –, aber ich habe dieses Happyend wie ein
Geschenk empfunden und schon beim Drehen gespürt, dass das
das Ende des Films ist.
T: Das „konstruierte“ Happyend passt zur Haltung des
Films – ihr gebt nicht vor, bloß von außen zu
beobachten. Was habt ihr sonst noch inszeniert?
G: Es gibt einiges. Z.B. die Arbeitsbesprechung ohne BetreuerInnen,
die so nur für den Film stattfand. Bernhard Girstmair hat die
Vision, dass sich die BetreuerInnen dereinst selbst wegrationalisiert
haben werden und die „Alm“ von den KlientInnen alleine
betrieben wird – diese Utopie ist im Film. Realistisch ist
nur die Beziehung, die wir zu den Leuten haben und wie sie sich
vor der Kamera zeigt.
[Das Gespräch wurde am 2. Juni 2006 in Wien geführt.]
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